- Reformkatholizismus: Auseinandersetzungen zwischen Modernisten und Integralisten
- Reformkatholizismus: Auseinandersetzungen zwischen Modernisten und IntegralistenAm Ende des 19. Jahrhunderts bot der nordamerikanische Katholizismus das Bild einer in der Gesellschaft isolierten Einwandererkirche, einer »Ghettokirche«. Ein Teil der Bischöfe und Kirchenglieder stand der amerikanischen Gesellschaft wie dem Protestantismus in einer unversöhnlichen Haltung gegenüber. Ein anderer Teil war jedoch überzeugt, ein guter Katholik könne ebenso ein guter amerikanischer Bürger sein und den protestantischen Mitbürgern aufgeschlossen begegnen. Ihnen rief Kardinal James Gibbon zu: »Gott und unser Land! Das sei unser religiöser und politischer Glaube«. Mit diesem »Amerikanismus« verband sich eine weiter gehende Ansicht: Es genüge nicht, bloß das katholische Leben mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld in Einklang zu bringen, auch die katholische Lehre müsse zeitgemäß gestaltet werden; die Bischöfe sollten weniger ihre Autorität betonen, stattdessen den Gläubigen entsprechend deren Mentalität mehr Denk- und Handlungsfreiheit zugestehen.Dieser Ansicht hatte Isaak Thomas Hecker ideell und praktisch den Weg bereitet. Die von ihm 1858 gegründete Missionsgesellschaft »Paulist Fathers« verfolgte das Ziel, die Nichtkatholiken durch ein zeitgemäßes Apostolat für den Katholizismus und ein modernes christliches Leben zu gewinnen. Dabei traten als anstößig empfundene katholische Lehren und Bräuche zurück. Die Suche nach apostolischer Vollkommenheit war von dem im Einzelnen wirkenden Heiligen Geist geleitet und von freiheitlichem Handeln begleitet. Der Widerspruch aus Rom blieb nicht aus. Papst Leo XIII. erklärte 1895, Amerika sei »kein Vorbild für den wünschenswertesten Zustand der Kirche«. Vier Jahre später folgte die Verurteilung des »Amerikanismus« als kirchliche Häresie. Indessen konnten Einspruch und Urteil des Papstes die fortschreitende Einbürgerung der katholischen Kirche in die nordamerikanische Gesellschaft nicht aufhalten. In den folgenden Jahrzehnten gewann sie durch den Zustrom europäischer Einwanderer nicht bloß zahlenmäßig an Bedeutung. Mit wachsendem Selbstbewusstsein und verbesserter Organisation vergrößerten sich ihre Macht und Wirksamkeit. Die katholische Kirche verlor ihren Ghettocharakter. Ihr beachtenswerter Platz im Leben der amerikanischen Nation verhalf ihr zu weltweitem Einfluss.Als 1897 die Biographie von Isaak Hecker in französischer Übersetzung erschien, wurde in Frankreich der »Amerikanismus« zu einem Leitbild des republikanischen Antiklerikalismus. Während die katholischen Monarchisten für Einfluss und Macht der Kirche im politischen und kulturellen Bereich eintraten, kämpften die Republikaner für eine völlige Säkularisation des öffentlichen Lebens und die konsequente Trennung von Staat und Kirche. Diesem »Laizismus« gelang mit den Trennungsgesetzen von 1905 ein dauerhafter Sieg. Er brachte aber die katholische Kirche in Frankreich in eine katastrophale Lage. Nur langsam lernte sie, den durch die radikale Trennung vom Staat gewährten Freiraum für ihre innere Entfaltung zu nützen.Neben dem Amerikanismus kamen vielerorts Reformbestrebungen mit unterschiedlichen Zielen und Inhalten auf, die pauschal als »Modernismus« bezeichnet werden. In Deutschland wollte Hermann Schell den Katholizismus als »Prinzip des geistigen Fortschritts« verstanden wissen. Das Mittelalter dürfe, wie Albert Erhard forderte, nicht länger als Norm gelten; es sei nötig, sich auf die neuzeitlichen Entwicklungen einzulassen. Im »Literaturstreit« wandte sich Carl Muth gegen eine katholisch moralisierende Literatur. Er gründete 1903 die Kulturzeitschrift »Hochland« mit der Absicht, katholischen Glauben und moderne Literatur in eine fruchtbare Beziehung zu bringen. In Frankreich wollte um 1900 die Sillon-Bewegung - der Name leitet sich von ihrem Motto »creuser le sillon de Dieu« (= die Furche Gottes graben) ab - mit ihrem sozialen und politischen Engagement die Kirche mit der Republik versöhnen und die Demokratie für Christus gewinnen. In der französischen Theologie wurde die historisch-kritische Forschung aufgenommen. Die Bibelkritik führte bei Alfred Loisy zu der Einsicht, dass Evangelium und kirchliches Dogma nicht völlig übereinstimmen. In England stellte George Tyrell fest, Christus sei nicht als Lehrer der Rechtgläubigkeit aufgetreten; die Offenbarung Gottes finde nicht in der Lehre, sondern in der religiösen Erfahrung ihre vollständige Gestalt. In Italien unterwarf Ernesto Buonaiuti die Kirchen- und Dogmengeschichte der historischen Kritik. Andere Katholiken wurden entgegen der päpstlichen Formel »Non expedit« (= Es geht nicht an) auf politischem Gebiet aktiv. Der Priester Romolo Murri gründete 1906 die demokratisch-katholische Partei »Lega democratica nazionale«.Papst Pius X. zögerte nicht mit disziplinarischen Maßnahmen gegen das »neue Christentum«, das »Sammelbecken aller Häresien«: Die Modernisten wurden aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen. Ihre Gegenspieler waren die katholischen »Integralisten«; in Treue zu Papst und Kirche verfolgten sie das Ziel, privates und öffentliches Leben »aus dem Ganzen des Katholischen heraus« zu gestalten. In seinem Rundschreiben »Pascendi Dominici gregis« (= Zu hütende Herde des Herrn) verurteilte Pius X. 1907 die »Lehre der Modernisten«. Zum Schutz gegen deren Irrtümer verpflichtete er 1910 alle kirchlichen Amtsträger und theologischen Lehrer, jährlich den »Antimodernisteneid« zu leisten; dieser wurde 1967 durch ein allgemeines Bekenntnis zur Kirchenlehre ersetzt. Die Maßnahmen gegen die modernistische Häresie begleiteten die Integralisten mit einer Modernistenjagd. Sie begnügten sich nicht mit der offenen Auseinandersetzung in Wort und Schrift. Im Umfeld des Papstes baute Umberto Benigni unter dem Deckmantel einer Pianischen Bruderschaft (»Sodalitium Pianum«) einen antimodernistischen Geheimdienst auf. Dieser bediente sich der Spionage und der Denunziation - auch von Bischöfen -, um die Kirche vor der »modernistischen Pest« zu schützen. Papst Benedikt XV. entzog 1921 dieser »integralistischen Verschwörung« die organisatorische Grundlage. Doch als theologisch-weltanschauliche und kirchenpolitische Position fand der Integralismus auch weiterhin Anhänger. Die Kirche vor Irrtümern zu behüten und die gesellschaftlichen Institutionen zu christianisieren, ist auch das erklärte Ziel des 1928 gegründeten Opus Dei (= Werk Gottes). Die aus Klerikern und Laien gebildete »Kampftruppe mit straffster Disziplin« will der Kirche eine »wirksame Anwesenheit« in der säkularen Welt verschaffen. Heute betätigt sich das »mobile Corps« des Heiligen Stuhls in 87 Ländern.Die modernistische Krise konnte die Kirche überwinden, aber sie hat nach den Worten des Theologen Karl Rahner »die Schlacht gegen den Modernismus verloren«. In dem Bemühen um ein »Heutig-Werden« (»Aggiornamento«) folgte das zweite Vatikanische Konzil (1962-65) auf weiten Strecken den Einsichten der Modernisten. Nach wie vor besteht jedoch das lehramtliche Misstrauen gegenüber einer zeitgerechten wissenschaftlichen Theologie. Auch die Spannungen zwischen dem strikten »Bewahren des Herkömmlichen« und einem fortschrittlichen »Öffnen zur Welt« sind geblieben. Während Pius IX. 1870 behaupten konnte: »Die Tradition bin ich«, machen heute Katholiken geltend: »Wir alle sind Kirche«. Darin zeigt sich das im Kirchenvolk gewachsene Bewusstsein: Die Kirche bedarf einer Erneuerung, die der heutigen Lebenswirklichkeit angemessen ist.Prof. Dr. Dr. Erwin FahlbuschDaiber, Karl-Fritz: Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Marburg 1995.Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.Der Modernismus. Beiträge zu seiner Erforschung, herausgegeben von Erika Weinzierl. Graz u. a. 1974.
Universal-Lexikon. 2012.